Über den Grenznutzen in der Psychotherapie
Im Rahmen der Beschäftigung mit Qualitätssicherung und der Auseinandersetzung mit Modellvorhaben zur QS bin ich auf den Begriff des Grenznutzens gestoßen, einem Kriterium, das Krankenkassenvertreter als wichtigen Zielaspekt von QS bezeichneten. So, wie ich es verstand, erschien es mir als ein Schlagwort, unter dem Haushaltsprobleme der Kassen auf Kosten der (seelischen) Gesundheit ihrer Versicherten/ unserer Patienten gelöst werden sollten. Das löste zuerst eine empörte affektive Reaktion in mir aus, auch wenn ich aus der Perspektive der Kassenvertreter deren Interesse an einer fiskalischen Lösung ihrer Probleme nachvollziehen konnte. Das Paradigma, dass für mich als Psychotherapeut das bestmögliche Heilungsergebnis für meine PatientInnen im Zentrum meiner Arbeit stehen müsse, erschien mir durch solche Überlegungen bedroht.
Um in einer Auseinandersetzung bestehen zu können, schließt meiner Ansicht nach das Bemühen um gute eigene Argumente die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der anderen Seite wesentlich mit ein. Was also ist Grenznutzen eigentlich?
Psychotherapieforschung hat längere Zeit vertreten, dass die größten Veränderungen bei den Patienten im Verhältnis zur Zahl der dafür aufgewendeten Sitzungen in den ersten 20-25 Sitzungen erfolge. Zumindest gilt das für Veränderungen, wie sie mit den häufig verwendeten Messinstrumenten der Psychotherapieforschung, Fragebögen und psychometrische Tests, erfasst werden können. Angesichts dieses Befundes stellt sich in Zeiten knapper Budgets (aus welchen Gründen auch immer) für die Verwalter dieser Finanzmittel (die Krankenkassen) die Frage, für wie viel Veränderung bei wie vielen Patienten sie wie viel Geld einsetzen wollen. Damit bekommt der Begriff des Grenznutzens Bedeutung als ökonomische Kalkulationsgröße. Was ist das?
Lexikalisch definiert:
Der Grenznutzen ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre. Er gibt den zusätzlichen Nutzen an, den der Konsum einer zusätzlichen marginal kleinen Einheit eines Gutes dem Konsumenten bringt.
Er ist wichtigster Begriff einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten, gegen Marx (1818-1883) gerichteten ökonomischen Theorie. In der Grenznutzentheorie wird bezweifelt, dass der Wert eines gehandelten Gegenstandes situationsunabhängig ist, das heißt nur von der investierten Arbeitszeit abhängig ist. Die Grenznutzentheorie meint, dass der Wert eines Dinges niedrig ist, wenn es reichlich zur Verfügung steht, dass der Wert aber unverhältnismäßig hoch sein kann, wenn dieses Ding nur selten angeboten wird. So hat zum Beispiel Wasser für den Durstigen einen sehr hohen Grenznutzenwert, der sich aber schon nach der ersten Stillung des Trinkbedürfnisses stark verringert. Genauso kann ein begehrtes Ding unter Umständen einen hohen Wert haben, wenn man es das erste Mal erwirbt. Die nächsten Dinge gleicher Art verlieren an Grenznutzenwert.
Das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen (1. Gossensches Gesetz) besagt, dass jede weitere Einheit eines Gutes einen geringeren zusätzlichen Nutzen als die vorangegangenen Einheiten bringt. Ein abnehmender Grenznutzen bedeutet, dass die zweite Ableitung der Nutzenfunktion nach der Konsummenge dieses Konsumgutes negativ ist.
Hier eine grafische Darstellung: Ähnlich den Höhenlinien einer Landschaft ergibt sich ein System von Indifferenzkurven.
Der Grenznutzen des Gutes j gibt an, wie das Nutzenniveau U = u(x1*,x2*) reagiert, wenn die Menge des Gutes j, also xj*, marginal verändert wird. In der Regel wird von Nichtsättigung ausgegangen, so dass die Grenznutzen positiv sind, d.h., zusätzliche Gütermengen verbessern das Wohlbefinden.
Entsprechend dem 1. Gossensches Gesetz wird unterstellt, dass die zweite Ableitung negativ ist.
Damit nimmt der Grenznutzen des Gutes j mit wachsendem Verbrauch ab.
Entscheidend beim Thema Grenznutzen für die Krankenkassenvertreter ist also die Schnittstelle, an welcher der (finanzielle) Aufwand das zu erzielende Ergebnis beim einzelnen Patienten nicht mehr ‚rechtfertigt‘. Für Kostenträger zählt dabei verständlicherweise der Gesichtspunkt, dass diese Mittel für andere Patienten (oder die Verwaltung) eingesetzt werden könnten, welche ebenfalls eine Psychotherapie (oder Anderes) brauchen, bzw., bei denen diese Schnittstelle (noch) nicht erreicht wurde. Hier geht es um eine Prioritätensetzung zwischen einem besten für einen einzelnen Patienten erzielbaren Ergebnis mit Nachhaltigkeit in der Langzeitwirkung einerseits und einer ökonomisch optimalen Nutzung vorhandener Finanzmittel für möglichst viele Versicherte andererseits. Die besonderen Bedingungen ökonomischer Perspektiven im Gesundheitssystem beschreibt Prof. Arnold in einem Vortrag über die Begrenzung der Mittel für die medizinische Versorgung am 12.6.2002:
„Die Höhe der für die medizinische Versorgung aktuell verfügbaren Mittel ist nicht aus einem wissenschaftlich ermittelten Bedarf unter Berücksichtigung von auf Anhieb objektiv erscheinenden Versorgungsnotwendigkeiten errechnet worden. Er hat sich vielmehr unter den politischen, medizinischen, ökonomischen, mentalen, juristischen etc. Rahmenbedingungen im Laufe einer langen Zeit ergeben. Es ist deshalb auch keine Aussage darüber möglich, ob die derzeit verfügbaren Mittel zu gering, gerade ausreichend oder zu hoch sind.
Tatsächlich ist ein Bedarf in keinem Wirtschaftsbereich, d.h. für kein Gut und für keine Dienstleistung zu bestimmen. Näherungsweise entspricht es dem Angebot, mit dem eine Nachfrage befriedigt werden kann. Das dann bestehende Gleichgewicht kommt durch die Mechanismen des Marktes zustande, der mit den Preisen auch Informationen darüber liefert, wie knapp ein Gut ist: Preise spiegeln seine Knappheit wider.
Im medizinischen Versorgungssystem funktioniert dies nicht, da die Leistungen dort nicht nach Maßgabe der individuellen Kaufkraft und entsprechend persönlichen Präferenzen erstanden, sondern nach Bedürftigkeit in Anspruch genommen werden können. Die Bedürfnisse aber sind, und zwar in besonderem Maße in einer säkularisierten Gesellschaft, auf diesem Feld grundsätzlich unbegrenzt: Monetäre Kosten fallen in dem solidarisch finanzierten System (für den Patienten direkt) unter den gegebenen Modalitäten bei der Leistungsgewährung kaum an…
Eine tendenziell unbegrenzte Leistungsnachfrage geht mit tendenziell unbegrenzten Ausgaben einher.“
(Professor (em.) Dr. med. Dr. h.c. Michael Arnold)
Die Abwägung zwischen wünsch- und erzielbarem Ergebnis und dem dafür notwendigen Aufwand (psychisch, zeitlich und finanziell) ist ein unabweislich notwendiger Vorgang in jeder Psychotherapie. Das heißt, dass Patienten, mit oder auch gegen ihr persönliches Umfeld, eine ‚Grenznutzen‘-Entscheidung treffen müssen, bei der sie selbst die Verantwortung tragen für die kurz- und langfristigen Folgen dieser Entscheidung für sie selbst und für ihr Umfeld.
Der Paradigmenwechsel wäre im oben beschriebenen Szenario einer Kostenzusage durch die Versicherung unter dem Gesichtspunkt des aus ihrer Sicht sinnvollen Grenznutzens also der, dass die Verantwortung für eine ‚Grenznutzenentscheidung‘ nicht mehr überwiegend bei den Patienten liegt, wohl aber die Konsequenzen weiter von ihnen zu (er-)tragen sind.
Selbst das wäre nicht völlig neu, denn schon jetzt wird ökonomisch steuernd dazu beigetragen durch die Psychotherapierichtlinien und die Stundenkontingente, welche durch die Kassen auf Vorschlag der Gutachter zugeteilt werden, die die entsprechenden Anträge auf diese Kriterien hin überprüfen.
Auch für die Behandler verschiebt sich die Art der Verantwortung. Bisher, zumindest als Teil der vertragsärztlichen/vertragspsychotherapeutischen Versorgung der Patienten, sind Psychotherapeuten verpflichtet ihre Behandlungen daran auszurichten, dass diese sachgerecht, .. und wirtschaftlich erbracht werden. Dementsprechend sind die Patienten zu beraten und zu behandeln. Wirtschaftlich hieß nach meinem Verständnis bisher, dass für das zu erzielende therapeutische Ziel keine unnötigen Leistungen beansprucht wurden, bzw., dass mit den von der Solidargemeinschaft der Versicherten finanzierten Leistungen keine Ziele verfolgt wurden, welche nicht den Anforderungen der Psychotherapierichtlinien als Krankenbehandlung entsprachen (Lebens- und andere –beratung, Befindlichkeitsstörungen in Rahmen allgemeiner Lebens-Erfahrung, u.ä.). Mit der Durchsetzung eines Primats des Grenznutzens im beschriebenen Sinne käme der Therapeut in die Situation seinem Patienten vermitteln zu müssen, dass zwar eine Fortführung der Psychotherapie zur Verbesserung der Heilungschancen, bzw. der Minderung des Leidens durchaus sinnvoll wäre, aber leider nicht mehr von den Kostenträgern übernommen werden könne, da die zu erwartenden Veränderungen den dafür notwendigen Kostenaufwand für die Versicherung nicht mehr rechtfertigen könne.
„Es stellt sich hier die schwierige Aufgabe, zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen anwesenden Patienten die Situation von anderen, nicht anwesenden Patienten mitzubedenken. Wiederum geht es um einen Grenznutzenausgleich, bei dem sich genau die gleichen Probleme stellen, wie bei dem Ausgleich gesellschaftlicher Grenznutzen. Für das Vorenthalten einer Leistung beim einzelnen Patienten gibt es keine generische Regel, die verwendet werden könnte, es sei denn, das Alter. Zusammen mit medizinischen Kriterien mag dies bei der Entscheidung über eine Intensivbehandlung oder eine Operationsindikation herangezogen werden, als allgemeiner Ausschließungsgrund ist es ethisch fragwürdig.“ M. Arnold
Außerdem steht zu befürchten, dass beim vorhandenen Mangel an Nachhaltigkeit im derzeitigen allgemeinen gesellschaftlichen Denken eine kurzfristige ökonomische Kalkulation mit kurzfristigem Grenznutzendenken eine ausreichend langfristige Kostenkalkulation verhindert. Damit würde bei nicht ausreichenden Behandlungen (symptomatisch orientiert versus Ursachenbezogen) Leiden unnötig verlängert, die Entwicklung einer Chronizität seelischer Erkrankungen gefördert/ verstärkt und letztlich mit großer Wahrscheinlichkeit langfristig die aufzuwendenden Kosten sogar vergrößert. Das gilt sowohl für psychoanalytisch/ tiefenpsychologische wie für verhaltenstherapeutische Behandlungen.
Es bestünde also die Gefahr, dass kurzfristige ökonomische Ziele ethisch und ökonomisch nicht akzeptable Folgewirkungen zeitigen könnten!
Das kann nicht unser Ziel einer Qualitätssicherung in der Psychotherapie sein!
Natürlich kann prinzipiell eine Begrenztheit von Ressourcen auch für Psychotherapien niemand ernsthaft bestreiten. Dieses wird auch für die monetären Ressourcen gelten müssen.
„ Sie bestehen zusätzlich zur Knappheit an (anderen) realen Ressourcen und dazu zählt in erster Linie die Zeit. Die Knappheit an Zeit zwingt den Arzt, Grenznutzen und Opportunitätskosten zu berücksichtigen, was sich bei der Berufsausübung in einer Prioritätensetzung und einer ungleichen Verteilung der dem einzelnen Patienten gewidmeten Zeit niederschlägt. Grundsätzlich können die gleichen Ansätze bei der Bewältigung der Knappheit an monetären Ressourcen verwendet werden:
· Versorgung nach Maßgabe des erwarteten Nutzens.
· Versorgung nach Maßgabe der anfallenden Kosten.
· Versorgung nach Maßgabe der medizinischen Dringlichkeit und der Schwere des Falles, d.h. Prioritätensetzung.“ M. Arnold
Es wäre eine neurotische Verleugnung bzw. Verkennung von Realität, dieses nicht gelten zu lassen. D.h., diese gesellschaftliche Diskussion muss geführt werden, schon allein deshalb, damit der Verlagerung der Probleme auf zukünftige Generationen endlich ein Ende gesetzt wird („Tatsächlich bestehen bei der Kranken- und Pflegeversicherung gewaltige Nachhaltigkeitslücken durch Lastverschiebungen zwischen den heutigen und zukünftigen Generationen.“, Studie aus dem Freiburger Institut für Finanzwissenschaft über die Nachhaltigkeit der Generationenverträge in der Kranken- und Pflegeversicherung).
„Eine Beschränkung ist wie abgeleitet erforderlich, doch zeigt sich nun, dass die beschriebenen Leistungsausschlüsse normativ sind und sich nicht gleichsam von selbst aus der Zweckbestimmung der Medizin ergeben.“ M. Arnold
Daraus ergibt sich, dass die Qualitätssicherung nicht das Feld sein kann, auf dem diese Frage ausgetragen werden kann. Qualitätssicherung hat zum Ziel die Qualität von Behandlung, in unserem Fall von Psychotherapie, und die kann meiner Ansicht nach nur das Wohl des einzelnen Patienten mit seiner ganz individuellen Krankheit im Rahmen seiner ganz individuellen Lebenssituation sein!
Das gilt es unseren Gesprächs- und Verhandlungspartnern zu verdeutlichen, wenn es um Qualitätssicherung geht!
J. Klauenflügel